AVIVA-Berlin >
Kunst + Kultur
AVIVA-BERLIN.de im November 2024 -
Beitrag vom 22.01.2015
Finding Vivian Maier. Ein Film von Charlie Siskel und John Maloof – ab 9. Oktober 2014 auf DVD & VoD
Susann S. Reck
Mit "Finding Vivian Maier" ist es den Regisseuren gelungen, einen der bewegendsten Dokumentarfilme der letzten Jahre zu drehen. Die 2009 in den USA gestorbene heimliche Fotografin fasziniert...
... nicht nur aufgrund ihres fantastisch umfangreichen Werkes.
Sie verkörpert zudem all das, was dem landläufig neoliberalen Kunstverständnis unserer Zeit diametral entgegengesetzt ist:
Maier war eine Künstlerin, die unentwegt produzierte, ohne sich oder ihr Werk zu verkaufen. Sie hat zu Lebzeiten kein einziges Foto veröffentlicht. Einen großen Teil ihres Werkes bekam sie selbst nie zu Gesicht, da sie die Fotos, die sie unermüdlich schoss, nicht immer entwickeln ließ.
Warum aber, wenn nicht um zu verkaufen, um sich als Künstlerin zu profilieren oder sich wenigstens allein mit der eigenen Kunst zu umgeben, hat sie dann fotografiert?
100.000 Negative und 1500 nicht entwickelte Filme
In dem von Charlie Siskel und John Maloof gedrehten Dokumentarfilm Finding Vivian Maier bleibt es ein Rätsel, warum die Fotografin ein Leben lang als Kindermädchen gearbeitet und mit nahezu niemandem das Geheimnis ihres kreativen Schaffens geteilt hat. Zwar berichten die Familien, bei denen sie gelebt und deren Kinder sie gehütet hat, Maier habe so gut wie immer eine Fotokamera bei sich getragen. Das Ausmaß ihres Schaffens jedoch, die außergewöhnliche Begabung, die sich hinter dem schrulligen Kindermädchen verbarg, erahnte niemand.
Vivian Maier hat kein Testament hinterlassen, in dem sie posthum auf ihr fotografisches Werk hätte verweisen können. Es scheint sicher zu sein, dass sie die rund 100.000 Negative und 1500 bislang nicht entwickelten Filme, die sie Zeit ihres Lebens verfotografierte, weder Verwandten noch Bekannten, geschweige denn der Öffentlichkeit zugänglich machen wollte. So ist es denn auch purem Zufall zu verdanken, dass ihr Nachlass nicht im Müll gelandet ist.
Historiker und Sammler John Maloof
Einen Teil von Vivian Maiers fotografischem Werk, eine Kiste voller Negative, entdeckte John Maloof bei einer Auktion in Chicago. Maiers Wohnung war aufgelöst worden, sie selbst lag im Krankenhaus und starb einige Zeit später.
Die Ersteigerung der Kiste ist nur eine von vielen Merkwürdigkeiten, die sowohl Vivian Maiers Leben als auch die an Magie grenzende Entdeckung nach ihrem Tod durchziehen. Es kann kein Zufall sein, dass die Negative an den Richtigen gerieten und Maloof zu einem Verwalter ihres Werkes wurde, der so wunderbar zwanghaft agierte, wie sie selbst. Einmal vom künstlerischen Wert seiner Entdeckung überzeugt, setzte er alle Hebel in Bewegung, um der Fotografie und auch dem Menschen Vivian Maier gerecht zu werden. Letzteres allerdings erwies sich als schwierig, eine weitere Merkwürdigkeit im Zeitalter totaler Datenerfassung und vermeintlicher Transparenz. Hätte sich Maloof mit den Ergebnissen erster Suchanfragen begnügt, hätte es den Film wohl nie gegeben. Der Name Vivian Maier sagte Google nichts. John Maloof hingegen kam, angefixt von der Schwierigkeit seiner Unternehmung, etwas über die Fotografin der ersteigerten Negative zu erfahren, in den Besitz ihres gesamten Nachlasses. Er drehte buchstäblich jedes, von Maier aufbewahrte, Busticket zweimal um, fand jedoch weder hilfreiche Tagebücher noch aufschlussreiche Briefe. Nicht einmal auf die Eltern von Vivian Maier gab es Hinweise. Eine Telefonnummer schließlich brachte ihn mit einem der Kinder in Verbindung, um die sich Maier einst gekümmert hatte. Die Spur eröffnete den Zugang zu einem Teil ihres Lebens, auf den sich der Dokumentarfilm maßgeblich stützt.
Maloof organisierte eine erste Ausstellung in Chicago, die Maier und ihre Fotografien schlagartig ins öffentliche Bewusstsein katapultierte. Zu welchem Zeitpunkt die Idee für ein Filmprojekt entstand, geht aus "Finding Vivian Maier" nicht hervor.
Existentielle Fragen
Es hat kafkaeske Züge, dass sich Maloof und Regisseur Siskel, der unter anderem "Bowling for Columbine" mit Michael Moore produziert hat, auf die filmische Suche eines Menschen begeben, der selbst alles getan zu haben scheint, um nicht entdeckt zu werden. Inwieweit es vor diesem Hintergrund legitim ist, das Werk Vivian Maiers auszustellen und zu verkaufen, ja einen kommerziellen Film über sie zu drehen, ist eine Frage, die von einigen ProtagonistInnen aufgeworfen und, glücklicherweise, nicht eindeutig beantwortet wird.
Unwillkürlich stellt sich die Zuschauerin die Frage, wie viele KünstlerInnen von der Sorte Vivian Maiers es gibt, wie viele FilmemacherInnen mit ihren Kameras drehen, ohne das aufregend gute Material zu einem Film zu schneiden, wie viele SchriftstellerInnen Bücher für die Schublade schreiben, die besser sind als das meiste, was veröffentlicht wird. Im Fall von Vivian Maier haben unzählige Negative und unentwickelte Filme einen Blick auf eine Welt hinterlassen, der neben seiner Einzigartigkeit, vor allem von verstörender Einsamkeit zeugt. Warum Vivian Maier überhaupt das Bedürfnis verspürte, ihren Blick fotografisch festzuhalten, liegt nach wie vor im Dunkeln und begründet zum Teil die Faszination an ihrer Person.
Selten werfen Filme so viele existentielle Fragen auf, wie im Fall von Finding Vivian Maier. Wer wir ohne das Bezugsnetz einer Familie wären, was für einen Sinn es hat, was wir im Leben tun und welche Rolle die Bestätigung anderer dabei spielt. Es ist ein Glück, dass sich weder Filmemacher Siskel, noch Vivian Maier-Entdecker Maloof, zu sehr an psychologischen Erklärungsversuchen aufhalten. Die autobiografischen Hintergründe sind dafür nicht ausreichend. Auch geben die wenigen Fakten genügend Raum zu Spekulationen in alle möglichen Richtungen. Denn, dass etwas nicht stimmte im Leben von Vivian Maier, davon kann ausgegangen werden.
Street photographer
Trotz zahlreicher Ausstellungen ihrer Fotografie in den USA, Kanada, Europa und Russland, tun sich die Museen mit Vivian Maier offenbar schwer. Dies gilt sowohl für die Anerkennung ihres Werks, das seinen Platz neben anderen FotografInnen in der Tradition amerikanischer street photography vom Format eines Gary Winogrand oder einer Helen Levitt haben müsste, als auch für eine große Werkschau. Das MOMA in New York begründete seine Zurückhaltung bislang mit dem Umstand, das Museum stelle ausschließlich KünstlerInnen aus, deren Werk bereits abgeschlossen sei. Das Museum wolle mit der noch zu leistenden Arbeit von Negativ- und Filmentwicklung nichts zu tun haben, erklärt Maloof im Film.
Zum Glück sucht der Historiker, der als Besitzer des Gesamtwerkes eine Art Lebensaufgabe gefunden hat, unbeirrbar weiter nach professioneller Hilfe, um dieses bestmöglich herauszubringen.
Nach seiner Weltpremiere auf dem Toronto Film Festival 2013 wurde die faszinierende Spurensuche von John Maloof weltweit zum Publikumsliebling auf Filmfestivals.
2014 wurde FINDING VIVIAN MAIER u.a. als bester Dokumentarfilm auf dem Michael Moore’s Traverse City Film Festival ausgezeichnet und gewann den Publikumspreis des Bermuda International Film Festivals. Bei der 64. Berlinale belegte der Film den 2. Platz des Panorama Publikumspreises in der Kategorie "Dokumentarfilm".
Aktuell ist FINDING VIVIAN MAIER zudem in der Rubrik "Bester Dokumentarfilm" für den British Academy Film Award, den Satellite Award und in der Rubrik "Bestes Drehbuch einer Dokumentation" für den Writers Guild of America Award sowie als Oscar für den Besten Dokumentarfilm nominiert.
AVIVA-Tipp Zu Recht war Finding Vivian Maier auf der 64. Berlinale ein Highlight. Das einzig Störende an dem Film ist die penetrante Filmmusik und der etwas zu effektvolle Schnitt, der ausstellt und betont, was der Film ohnehin transportiert, eine Geschichte, die größer und dramatischer ist als das Leben selbst, die bewegt, mitreißt und die Sicht auf das Leben in unserer von Konsumkapitalismus geprägten Welt ein stückweit verändern kann. Auf den Punkt gebracht:
Finding Vivian Maier ist ganz großes Kino.
Zu den Filmemachern
John Maloof, ein Historiker und Sammler aus Chicago, entdeckte vor mehr als acht Jahren das Werk von Vivian Maier. Er hatte, was Fotografie anbelangt, keinerlei Vorbildung.
www.johnmaloof.com
Charlie Siskel schreibt Drehbücher für Film und Fernsehen. Er hat als Regisseur und Produzent gearbeitet, unter anderem für Bowling for Columbine, Religulous und Finding Vivian Maier. Für das Fernsehen hat er The Awful Truth mit Michael Moore, Crossballs, Important Things with Demetri Martin, Tosh.0 und Review produziert. Siskel, der früher als Anwalt gearbeitet hat, lebt in Los Angeles.
twitter.com/charliesiskel
Finding Vivian Maier
Regie: Charlie Siskel, John Maloof
Cast: John Maloof, Mary Ellen Mark, Phil Donahue
DVD FACTS
DVD Specials: Die DVD enthält neben dem Hauptfilm und dem Kinotrailer 12 Minuten original 8-mm Filmaufnahmen von Vivian Maier. Die Aufnahmen vermitteln einen Eindruck ihrer einmaligen Beobachtungsgabe und geben zugleich einen faszinierenden Einblick in das Chicago der 70er Jahre.
Sprache: Neben der Kinofassung in Englisch (Dolby Digital 5.1) mit deutschen Untertiteln, steht auf der DVD zusätzlich auch eine deutsche Synchronfassung zur Auswahl
Bildseitenformat: 16:9
FSK: Hauptfilm ab 0 Jahren, ohne Altersbeschränkung (Übernahme beantragt)
Spieldauer: 81 Minuten
Erscheinungstermin: 9. Oktober 2014
Verleih: NFP (Filmwelt)
Offizielle Website: www.vivianmaier.com
Offizielle Filmwebsite: www.findingvivianmaier.com
Trailer: www.youtube.com